Laudatio auf Lutz Niethammer

von Jürgen Reulecke, Giessen

Lutz Niethammer ist ein außerordentlich vielseitiger und origineller Sozial-, Kultur- und Politikhistoriker der Neuesten und der Zeitgeschichte. Er hat den historischen Wissenschaften insgesamt wichtige Impulse erteilt und insbesondere zur Erfor­schung der Geschichte des Ruhrgebiets im späten 19. und 20. Jahrhundert durch neue, weitreichende Initiativen beigetragen. Ohne Lutz Niethammer hätte sich die Geschichtsschreibung über das Ruhrgebiet nicht in der Breite und Tiefe entwickeln können, die sie heute repräsentiert.
Der erste Träger des Bochumer Historikerpreises ist an der Universität Heidelberg ausgebildet worden und hat als Wissenschaftlicher Assistent an der Ruhr-Universität Bochum gearbeitet. Er wurde 1973 Universitätsprofessor an der Universität-Gesamt­hochschule Essen und versah dort zeitweilig das Amt des Konrektors. 1982 berief ihn die FernUniversität Hagen, 1993 wechselte er an die Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte nahm er in Oxford, Paris, York, Berlin und Florenz wahr. Seit 1989 war er für vier Jahre Gründungsbeauftragter und erster Präsident des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, einer Einrichtung des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen. Als ausgezeichneter Sachkenner ist er zum Wissenschaftlichen Berater der Bundesregierung für die Regelung der Zwangsarbeiterentschädigung berufen worden.
Das wissenschaftliche Interesse Lutz Niethammers gilt vor allem der europäischen und deutschen Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. In einer Reihe von Untersuchungen wird auch das 19. Jahrhundert einbezogen. Die frühen Arbeiten haben entscheidend geholfen, die fachhistorische Erforschung der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland voranzutreiben: Mit einer bahnbrechenden Disser­tation wurde die Erforschung der Entnazifizierung in Deutschland am bayerischen Beispiel auf eine neue Grundlage gestellt (1971). Die späteren Bücher über „Post­histoire“ (1989) und „Kollektive Identität“ (2000) dokumentieren das dezidierte, fruchtbare Bemühen, die Sozial- und Kulturwissenschaften insgesamt und die Geschichtswissenschaft im besonderen theorie- und geistesgeschichtlich zu definieren. Lutz Niethammer hat darin in zugleich umsichtiger und herausfordernder Weise unterschiedliche, ja, kontroverse Analyseansätze auf ihre historischen und biographischen Entstehungszusammenhänge bezogen.
In ebenso nachdrücklicher und reflektierter Weise hat Lutz Niethammer längst vor der deutsch-deutschen Vereinigung die Ost-West-Forschung beeinflusst. Dazu gehören weitführende Überlegungen zur Nationalstaatlichkeit der Bundesrepublik (1972) und über die historischen Alternativen, die sich in der Verfestigung der Nach­kriegsordnung und während des Kalten Krieges anboten (Arbeiterinitiative 1945, 1976; Der Marschallplan und die europäische Linke, 1986). Die deutsch-deutschen Zeithistorikertagungen sind von ihm mitinitiiert und seit 1984 mitveranstaltet worden. Er hat weitsichtige Editionen zu den „dunklen“ Seiten der ostdeutschen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte veröffentlicht (Der „gesäuberte“ Antifaschismus, 1994; Sow­jetische Speziallager, 3 Bände, 1997-1999). Zu diesen Arbeiten gehört gleichfalls ein noch vor dem Umbruch von 1989/90 in der DDR durchgeführtes, damals sensatio­nelles Oral-History-Projekt (Die volkseigene Erfahrung, 1991).
Die Erforschung der erfahrungsgeschichtlichen Dimensionen der Gesellschafts­geschichte wird in Deutschland wie international auf das engste mit dem Namen von Lutz Niethammer verbunden. Er hat, in einem langjährigen Forschungsprojekt an der Universität-Gesamthochschule Essen, erstmals systematisch lebensgeschichtliche Befragungen der sogenannten „einfachen“ Menschen im Rahmen einer Forschungs­gruppe durchgeführt, und die hieraus entstandenen Veröffentlichungen gelten als Grundlegung der „Oral-History“ in der Bundesrepublik Deutschland. Es wird darin deutlich, dass Lutz Niethammer die Geschichtswissenschaft stets als ein Metier ver­standen und betrieben hat, in dem kritische Kommunikation aller Beteiligten inno­vative Erkenntnisse ermöglicht. Das große Ruhrgebiets-Forschungsprojekt über „Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930-1960“ (LUSIR) als zusam­menfassende, dreibändige Darstellung der „Oral-History“ Ergebnisse (1985) ging auch darin neue Wege, dass die höchst gegensätzlichen politischen Systeme dieses Zeitraums sehr bewusst umgriffen wurden. Erst seither verfügt die Forschung über detailliertes Wissen zu den Lebensbedingungen, Mentalitäten und Verhaltensformen der Menschen im Ruhrgebiet während der jüngeren Vergangenheit. In diesem Zusammenhang ist, darüber hinaus, eine ganze Serie eigenständiger Forschungen Lutz Niethammers entstanden, in denen die Forschung über die Geschichte des Alltags maßgeblich vorangetrieben wurde.
Lutz Niethammers langjährige Tätigkeit im Beirat und in der zentralen Jury des Schülerwettbewerbs Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten unterstreicht, wie sehr ihm daran gelegen war und ist, über die Grenzen der univer­sitären Historiographie hinaus zu wirken und mit gleichsam alltäglichen Forschungs­themen das Engagement gerade auch junger Menschen für die Reflexion von Herkunft, Entwicklung und Befinden in der Gesellschaft zu wecken und zu beflügeln.
Gerade mit Blick auf die Ruhrgebietsgeschichte hat Lutz Niethammer vielseitige Impulse erteilt. Das spiegelt sich nicht nur in den von ihm selbst publizierten For­schungsergebnissen. Sein nachhaltiges Wirken ist ebenso in den Schriften seiner Schülerinnen und Schüler und weit darüber hinaus zu erkennen: Er war einer der Aufsichtsräte der Bauhütte Zollverein in Essen und wirkte als Beirat der Internatio­nalen Bauausstellung Emscherpark; er hat als Präsident des Kulturwissenschaft­lichen Instituts eine Fülle von Forschungsinitiativen erteilt; er hat es insgesamt immer verstanden, jüngere Historikerinnen und Historiker an sich zu ziehen, in seine Ge­sprächskreise einzubeziehen und zu eigenständigen Forschungsarbeiten anzuregen. Seine Schülerinnen und Schüler nehmen heute an renommierten Universitäten ein­flussreiche Stellungen wahr. Zahlreiche akademische Prüfungsarbeiten, die an den Wirkungsstätten abgeschlossen werden konnten, zeugen von solchem überragenden Wirken. Eine Reihe von ausgedehnteren Forschungsarbeiten gehört heute zu den Standardwerken der Ruhrgebietshistoriographie.
ie Stiftung der Sparkasse Bochum, die Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets, der Oberbürgermeister der Stadt Bochum und der Rektor der Ruhr-Universität Bochum ehren mit der Verleihung des Bochumer Historikerpreises an Lutz Niethammer die vieljährige Forschungsleistung, insgesamt ein eindrucksvolles Lebenswerk, einer beispielgebenden, nach wie vor innovativ wirkenden Persönlichkeit der deutschen und internationalen Forschungslandschaft.

 

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