WAZ, 16.04.2008

Bizarres Szenario der Widersprüche

Vor 70 Jahren brannte die Bochumer Synagoge - eine Stunde des Gedenkens

Von Marcus Römer

Als am 9. November 1938 im Zuge der "Novemberpogrome" die Bochumer Synagoge im Flammen aufging, war sie eine von vielen in ganz Deutschland. Die Art und Weise, wie die Justiz nach dem Krieg dieses Verbrechen aufzuklären versuchte, indem sie gegen Hauptverdächtige und Mittäter ermittelte, ist jedoch symptomatisch für die Hilflosigkeit der deutschen Behörden im ganzen Land. Wenn die Angeklagtenbank dann auch noch von kollektivem Gedächtnisschwund befallen wird, wird es geradezu unmöglich, Licht ins Dunkel dieses Geschichtskapitels zu bringen.

Das verdeutlichten die sechs Mitglieder des Bochumer Ensembles einschließlich ihres Intendanten Elmar Goerden unter dem Titel "Ich kann mich nicht entsinnen" in den fast ausverkauften Kammerspielen auf so angemessene wie beklemmende Weise. Elmar Goerden betritt die Bühne, dunkle Hose, schwarzer, schlichter Wams, um den Mao ihn beneiden würde.

In Goebbelsschem Duktus, der in seiner sprachlichen Pedanterie jeder Silbe Geltung unterstellt und somit Anspruch auf Ernsthaftigkeit propagiert, liest Goerden den Artikel vor, der am 11. November 1938 unter der Überschrift "Vom Zorn des Volkes hinweggefegt" im Bochumer Anzeiger erschienen ist.

Dann nehmen die Angeklagten Platz; 17 sind es an der Zahl, die von Benno Ifland, Manfred Böll, Oliver Möller, Thomas Anzenhofer und Klaus Weiss sowie Goerden dargestellt werden. Es sind frühere SA-Männer, Feuerwehrleute, Ex-Polizisten sowie der frühere Bochumer Bürgermeister Dr. Otto Leopold Piclum.

Grundlage der nun folgenden Lesung sind die Vernehmungsprotokolle des Bochumer Landgerichts aus dem Jahre 1949.

Was folgt, ist eine Aufzeigung der Grenzen von Wahrheitsfindung, die teilweise an Akiro Kurosawas Filmklassiker "Die sieben Samurai" erinnert: Jeder erinnert die Ereignisse anders - wenn überhaupt. Es sei zu lange her, es habe Chaos geherrscht, Umstehende hätten Feuerwehrleute an der Löschung der Synagoge gehindert oder auch nicht.

Es seien Rufe laut geworden, das Feuer mit Benzin zu löschen, Helfer hätten mit Verfolgung durch die Nazis zu rechnen.

Ein bizarres Szenario wurde durch diese Widersprüchlichkeiten hervorgerufen. Das Publikum verfolgte diese Protokolle angespannt, einzig SA-Mann Max B, gesprochen von Oliver Möller, sorgte für einen kleinen Erlösungslacher, als er meinte, er hätte im Jahr 1943 diesen Motorradunfall gehabt, der bei ihm Gedächtnisschwund provoziert hätte.

Der Abend schlug in die Wunde, an die der Historiker Peter Longerich vor gut eineinhalb Jahren mit seinem Buch "Davon haben wir nichts gewusst" erinnert hat. Darin legt er dar, wie groß das Bewusstsein im Volk der Deutschen über den Holocaust gewesen war. Nämlich sehr groß. Aber nach 1945 war die Erinnerung an zwölf Jahre Nationalsozialismus wie weggefegt: nichts gehört, nichts gesehen und nichts gesagt sowieso.

Die Lesung wurde aufgelockert durch das einfühlsame Spiel der Bochumer Symphoniker, die zu diesem Anlass eine beträchtliche Zahl von Musikern gestellt hatte. Sie spielten Stücke von Pärt, Mozart und Williams.

Die Darsteller hingegen verzichteten auf besondere Intonation oder gar Spiel. Die Absurdität der Äußerungen der Angeklagten, ihre Kleingeistigkeit, Mittelmäßigkeit, Verführbarkeit zur Beteiligung an Menschheitsverbrechen sprachen für sich. Das eigentlich Undenkbare war Wirklichkeit geworden. Die Schauspieler gönnten sich nur einen kurzen Applaus und verzichteten pietätvoll auf Vorhänge; die Symphoniker genossen das verdiente Publikumslob etwas länger.


zit. nach:
http://include.derwesten.de/archiv/detail.php?query=92417&article=1&auftritt=WAZ