WAZ, 11.04.2008

Alle kennen "She loves you" von den Beatles

Kulturforscher Jürgen Reulecke spricht über Lieder, die Generationen geprägt haben. Von "Lili Marleen" bis zu "Brüder zur Sonne zur Freiheit"

Von Marcus Römer

Ruft Bill Haleys Rhythmus-Rempler "Rock around the Clock" aus dem Jahre 1954 heute noch die Ekstase hervor, die Halbstarke von Flensburg bis Garmisch die Kinosäle zertrümmern ließ? Wohl eher nicht, außer bei denjenigen, die rund ums Jahr 1940 geboren wurden und denen bei der Erinnerung an kreisende Hüften und Schmalztolle ein paar wehmütige Wässerchen in die Augen kullern. Bildet sich bei heutigen jungen Menschen die gleiche Gänsehaut beim Hören von Lale Andersens Soldatenhit "Lili Marleen" wie damals 1943, als junge Männer - Freund und Feind - in Schützengräben lagen und gleichermaßen von Sehnsucht nach Heimat und Frieden gepackt wurden? Auch das ist eher zweifelhaft. Aber wer diesen Song während des 2. Weltkriegs gehört hat, der wird ihn nie vergessen.

"Good-bye Memories?" heißt das Buch, auf dessen Grundlage der Geschichtsprofessor und Kulturforscher Dr. Jürgen Reulecke in der gut besuchten Bibliothek des Ruhrgebiets einen Vortrag hielt, der sich der Frage nach generationsspezifischen Liedern widmete, die in das kollektive Gedächtnis eingegangen sind. Da gibt es so einige.

"Rock around the Clock" ist einer davon. "She loves you" von den Beatles vielleicht auch und "I can't get no Satisfaction" von den Rolling Stones mit Sicherheit. Und um wenigstens ansatzweise ins Heute zu kommen, muss auch "Smells like Teen Spirit" von "Nirvana" genannt werden.

Jede Generation, gerade wenn sie sich noch im Reife- und Findungsprozess befindet, hat einen Mordsspaß daran, sich irgendwie zu positionieren, zu distinguieren und auf jeden Fall zu protestieren. Wenn man schon nichts wird, will man doch wenigstens etwas sein.

Den großen Bogen schlug Reulecke nicht, aber er hätte auch den Rahmen gesprengt. Reulecke bezieht sich in seinem Buch, das er zusammen mit Barbara Stambolis komponiert hat, auf ausgesuchte 25 Lieder, die Generationen, Lebensgefühle und Zeitströmungen repräsentieren.

Unlängst stellte er Lieder aus der "Wandervogel"- und Nazi-Zeit in den Mittelpunkt seines Vortrags. "Wildgänse rauschen durch die Nacht", "Brüder zur Sonne, zur Freiheit", "Jenseits des Tales", "Die Moorsoldaten", "Lili Marleen" und "Unsere Fahne flattert uns voran" aus dem Propaganda-Film "Hitlerjunge Quex" dominierten den Abend.

Dabei stellte der 68-Jährige, der auch als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Bibliothek des Ruhrgebiets aktiv ist, vor allem die Veränderungen heraus, die diese Lieder im Laufe der Zeit erfahren haben.

So habe beispielsweise Reichsjugendverführer Baldur von Schirach mit nur zwei Wortänderungen dem Lied "Jenseits des Tales" seine homoerotische Bedeutung entzogen, so wurde aus dem ursprünglichen Arbeiterlied "Brüder zur Sonne, zur Freiheit" nach der NS-Machtergreifung ein patriotischer Gassenhauer.

Er wurde gern gesungen, bei Massenaufmärschen oder im Hinterzimmer der Proletarierkneipe. Böse Menschen singen eben auch ganz gern.

Das Ziel von Reuleckes Vortrag wurde indes nicht wirklich deutlich. Generationsspezifika wechselten sich ab mit Deutungs- und Funtionswandel der exemplarischen Lieder.

Vielleicht sollten zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden. Erwischt hat es keine, aber beide wurden verletzt.

Jürgen Reulecke, Barbara Stambolis: Good-bye Memories?, Klartext, 458 Seiten, 27 Euro


zit. nach:
http://include.derwesten.de/archiv/detail.php?query=328652&article=2&auftritt=WAZ