RUB-Presseinformation Nr. 232, 10.07.2007

Erste "Doppel-Doktorin" in der RUB-Geschichtswissenschaft

Vergleich: Belgische und französische Bergwerke unter deutscher Besatzung
Deutsch-Französische Co-tutelle de thèse abgeschlossen


Mit ihrer Untersuchung der „Arbeitsverhältnisse und Arbeitsbeziehungen im nordfranzösischen und belgischen Steinkohlenbergbau unter deutscher Besatzung (1940-1944)“ hat Nathalie Piquet als erste Studentin der Geschichtswissenschaft in Bochum und Lille den „Doppel-Doktor“ gemacht. Sie hat das gemeinsame Promotionsverfahren der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Charles de Gaulle-Lille 3 durchlaufen und wurde am 10. Juli 2007 von einer vierköpfigen Prüfungskommission mit je zwei Gutachtern von jeder Uni in Bochum geprüft. Beide Hochschulen haben auch je einen Betreuer für die so genannte „Co-tutelle de thèse“ benannt: Prof. Dr. Klaus Tenfelde von der RUB und Jean-Francois Eck aus Lille. Nathalie Piquet hat unter anderem herausgearbeitet, dass die Arbeiter in Belgien und Frankreich anders als in Deutschland gegen die deutsche Regierung eingestellt waren. Entsprechend hatten es auch die dortigen Zwangsarbeiter leichter als in Deutschland: Sie wurden von der Arbeiterschaft und der Résistance unterstützt.

Lebensbedingungen für Zwangsarbeiter in Belgien und Frankreich waren besser
Der Vergleich der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeiter im belgischen und französischen Bergbau zeigt, dass die Verpflegung zwar auch in Belgien und Frankreich schlecht, aber der Abstand zu den einheimischen Bergleuten nicht so groß war wie im Reich, namentlich im Ruhrgebiet. Trotz der harten Arbeitsbedingungen sowie der schlechten Gesundheitsversorgung waren die Überlebenschancen höher, weil erstens die Ausbeutung der Arbeitskraft nicht so extensiv ausfiel. Zweitens kamen (rassistisch motivierte) Misshandlungen nur sehr selten vor und die Wachmannschaften konnten auf keinerlei Unterstützung durch die belgischen und französischen Arbeiter rechnen. Auch die auf Einbürgerung hoffenden „Volksdeutschen“ unter den nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Ruhrgebiet eingewanderten „Polen“ waren innerhalb der Bergarbeiterschaft weitgehend isoliert und entsprachen den Erwartungen der deutschen Besatzung hinsichtlich Spitzeldiensten und Streikbrecherei nicht. Der dritte und wichtigste Unterschied zur Situation im Ruhrgebiet waren jedoch die wesentlich eher Erfolg versprechenden Fluchtmöglichkeiten. Flüchtlinge konnten nicht nur auf Unterstützung durch die einheimische Bevölkerung rechnen, sondern fanden auch in der Widerstandsbewegung eine vergleichsweise gute Überlebensperspektive.

Mehr als „nur“ Zwangsarbeiter
Trotz ihrer Einbettung in die übergreifende Zwangsarbeiterthematik greift die Arbeit von Nathalie Piquet weit darüber hinaus. Denn der Zwangsarbeitereinsatz spielte in keinem der sechs untersuchten Reviere (mit 1% bis 5% in den beiden französischen und drei belgischen Revieren sowie 14,5% in der belgischen Campine) auch nur annähernd die Rolle wie im Steinkohlenbergbau im Reich, wo der Anteil etwa im Ruhrgebiet zeitweise bei 40% lag. Es geht in der Arbeit also auch um die belgischen und französischen Arbeiter (einschließlich der polnischen und italienischen Zuwanderer) und nicht nur um die deportierten ukrainischen Zivilarbeiter oder „russischen“ und serbischen Kriegsgefangenen.

Weit über den zweiten Weltkrieg hinaus geschaut
Ferner blickt Nathalie Piquet auch über die Zeit des Zweiten Weltkriegs hinaus. So untersucht sie das Zwangsarbeiterthema eingebettet in den größeren Kontext der Arbeitsverhältnisse und Arbeitsbeziehungen in den Revieren seit dem Ersten Weltkrieg, unter der deutschen Besatzung, unter konservativen und Volksfront-Regierungen in der Zwischenkriegszeit, wieder unter deutscher Besatzung und schließlich auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Entwicklung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der belgischen bzw. französischen Bergarbeiterschaft im zweiten Weltkrieg wäre ohne den Rückgriff bis in die Besatzungszeit des Ersten Weltkriegs gar nicht zu verstehen. Insbesondere für das eindeutig auf Kooperation mit den Belegschaften und nicht mit der deutschen Besatzung setzende Verhalten der belgischen Bergwerksunternehmer während der Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg, das sich fundamental von dem der kollaborationsbereiteren französischen Unternehmer unterschied, waren die Erfahrungen im Ersten Weltkrieg mit den anschließenden massiven Kollaborationsvorwürfen konstitutiv. Das erklärt auch die unterschiedliche Entwicklung in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die in Belgien nach Überwindung der Schwierigkeiten unmittelbar nach der Befreiung in eine vergleichsweise ruhige Entwicklung mündete, während in den nordfranzösischen Revieren trotz der Verstaatlichung des Bergbaus keine Ruhe einkehren sollte. Denn die bei den Bergleuten durch ihr Verhalten während des Krieges verhassten Ingenieure und Steiger verblieben dort weiterhin in ihren Funktionen.

Größerer Rahmen: Zwangsarbeit im Bergbau
Nathalie Piquet hat während ihrer Forschungstätigkeit zehn Monate an der Universität in Lille verbracht, den Rest der Zeit am Institut für Soziale Bewegungen der Ruhr-Universität. Davor hat sie in Bochum Geschichte und Französisch studiert. Die 38-jährige, die gerade Mutter geworden ist, arbeitet zurzeit als Referendarin im Schuldienst. Die Dissertation ist am Institut für soziale Bewegungen im Rahmen eines größeren Forschungsprojektes zur Zwangsarbeit im deutschen Kohlenbergbau entstanden. Dieses mittlerweile abgeschlossene Projekt nahm nicht nur die reichsdeutschen Montanreviere in den Blick, sondern auch Reviere in den vor und während des zweiten Weltkriegs besetzten Ländern. Dazu gehörten auch Nordfrankreich und Belgien mit ihren insgesamt sechs Steinkohlenrevieren zwischen Lüttich und Lille.

Weitere Informationen:

Prof. Dr. Klaus Tenfelde, Institut für Soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum, Haus der Geschichte des Ruhrgebiets, Clemensstr. 17-19, 44789 Bochum, Tel. 0234/32-28687
Klaus.Tenfelde@rub.de


zit. nach:
http://www.pm.ruhr-uni-bochum.de/pm2007/msg00232.htm