Die Berliner Literaturkritik, 28.11.2005

Der gefeierte Historiker

Jürgen Kocka erhält den diesjährigen Bochumer Historikerpreis
© Die Berliner Literaturkritik, 28.11.05

BERLIN (BLK) – Der Bochumer Historikerpreis, welcher herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Wirtschafts-und Sozialgeschichte ehren soll, wurde in diesem Jahr dem Berliner Historiker Prof. Dr. h.c. mult. Jürgen Kocka überreicht. Der mit 25 000 Euro dotierte Preis wurde seitens des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, der Ruhr-Universität Bochum, der Stadt Bochum selbst sowie der Stiftung der Sparkasse Bochum und der Bibliothek des Ruhrgebiets verliehen. Die offizielle Preisverleihung fand am 25. November 2005 in Bochum statt.

Die maßgebliche Position des Historikers

Der Berliner Geschichtswissenschaftler Jürgen Kocka zählt seit den 1970er Jahren zu den führenden Köpfen einer Historikergeneration, welcher es gelang, die Identität der deutschen akademischen Geschichtswissenschaft neu zu charakterisieren. Der heute 64-Jährige studierte an der Freien Universität Berlin, wo er 1968 mit „einer grundlegenden Untersuchung über Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft bei Siemens“ promovierte. Bis zum heutigen Tage wird dieses Werk als eine Pionierstudie auf dem Gebiet der Unternehmensgeschichte verstanden. Anknüpfend an diesen Erfolg, legte Jürgen Kocka im Jahre 1972 als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Münster eine vergleichende Untersuchung vor, welche die „politische Sozialgeschichte“ der Angestellten in den USA behandelte. Im Jahr darauf nahm er das Amt der „Professur für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Sozialgeschichte“ innerhalb der damals frisch gegründeten Universität Bielefeld an.

Bereits 1972 hatte der angehende Historiker jedoch begonnen, zu publizieren. In jenem Jahr veröffentlichte er eine umfassende und detaillierte Studie über die deutsche „Klassengesellschaft“ im Ersten Weltkrieg. In der kurz darauf erscheinenden Serie von Aufsätzen und Büchern analysierte er anschließend das Feld der neuen deutschen Sozialgeschichte. Letztgenannte Arbeiten stilisierten ihn zwei Jahrzehnte lang zum Oberhaupt der so genannten „Bielefelder Schule“, welche als „geschichtswissenschaftliche Erneuerung“ rasch in internationale Schlagzeilen gelangte. In Bielefeld übernahm Jürgen Kocka zeitweilig die Leitung des Zentrums für interdisziplinäre Forschung, wo er etliche Schüler zu Untersuchungen über die Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts motivierte. Zu großen Teilen ist ihm auch die Entstehung des heute berühmten Bielefelder Sonderforschungsbereiches über die „Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums“ zuzuschreiben. Zeitgleich widmete sich der engagierte Wissenschaftler der „Geschichte der Arbeiter während der Industrialisierung“ und verfasste zwei einschlägige Bände zu diesem Thema. Ein ebenfalls von ihm zusammengestelltes Werk zur Grundlegung der modernen Sozialgeschichtsschreibung war lange Zeit ein wichtiger Bestandteil aller Proseminare der Fachrichtung. Eine große Anzahl von Sammelbänden, welche den Status von Arbeitern und Bürgern im Allgemeinen erörtern sowie die europäische Zivilgesellschaft und die deutsch-deutsche Vereinigungsproblematik analysieren, wurde ebenfalls unter seinem Namen publiziert.

Gesellschaftliche Selbstaufklärung

Im Jahre 1998 nahm der erfolgreiche Historiker eine neu geschaffene Professur zur Geschichte der industriellen Welt an der Freien Universität Berlin an. Dieses Amt ermöglichte es ihm, maßgeblich an der Umordnung der hauptstädtischen Geschichtswissenschaft mitzuwirken. In diesem Sinne richtete er beispielsweise das Zentrum für vergleichende Geschichte Europas ein. Zwei Jahre darauf gestand man ihm den Titel „Präsident des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung in Berlin (WZB)“ zu. Diese Einrichtung wird als eine der größten sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen Europas gehandhabt. Die globale Bedeutung des deutschen Geschichtswissenschaftlers äußert sich zudem durch das Erlangen dreier Ehrendoktorhüte seinerseits, zahlreiche Mitgliedschaften in Akademien sowie durch seinen Vorsitz im internationalen Historikerverband.

Jürgen Kocka hat sich den Namen „public historian“ längst verdient gemacht. Durch sein Engagement bezüglich der Vergangenheitsbewältigung sowie der Geschichtspolitik wie auch innerhalb der Problematik des deutschen Nationalstaats und des Wandels der Erwerbsarbeit in der Gegenwart begreift er die Geschichtswissenschaft als einen unabdingbaren Faktor gesellschaftlicher Selbstaufklärung. Dies ist bezeichnend für seine Herangehensweise an die Besonderheiten der deutschen Geschichte, weiß die Ruhruniversität Bochum.

(Alma Roßmark)


zit. nach:
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