WAZ, 23.04.2002, Ruhrgebiet Extra:

Nachbarschaftsschwüre müssen mehr sein als Worthülsen

Das Ruhrgebiet steht am Scheideweg - Die
Professoren Klemmer und Tenfelde diskutierten
bei der WAZ über die Zukunft der Region


Der eine ist Ökonom, der andere Historiker,
beide befassen sich seit vielen Jahren
professionell mit dem Ruhrgebiet: Professor
Paul Klemmer, Präsident des
Rheinisch-Westfälischen Instituts für
Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen, und
Professor Klaus Tenfelde, Leiter der Bochumer
Stiftung "Bibliothek des Ruhrgebiets", zählen
zu den profiliertesten Wissenschaftlern der
Region. Ihre höchst unterschiedlichen Analysen
zu Perspektive und Zukunftsfähigkeit des
Ruhrgebiets finden regelmäßig große Beachtung.
Während Klemmer im Revier starke
Auflösungstendenzen beobachtet, erkennt
Tenfelde eine nie dagewesene
Aufbruchsstimmung. Die WAZ bat die beiden
Forscher zum Streitgespräch.

WAZ:
Das Ruhrgebiet wird in den nächsten 15 Jahren
um rund 400 000 Einwohner schrumpfen. Vor
allem die sogenannte "Stadtflucht" macht den
Kommunen zu schaffen. Ist es wirklich eine
"Flucht", eine Abstimmung mit den Füßen zu
Ungunsten des Reviers?

Klemmer:
Zunächst einmal muss man sich fragen, ob das
Ruhrgebiet überhaupt noch als
zusammengehöriger Raum betrachtet werden kann.
Die Zusammengehörigkeit lag doch in erster
Linie in der Montanindustrie. Erst Kohle und
Stahl haben einer Schar von Kommunen eine
gemeinsame ökonomische und den Menschen eine
mentale Prägung gegeben. Das ist vorbei,
endgültig passé. Die Identifikation mit der
Montanindustrie ist spätestens 1997 zu Ende
gegangen. Die berühmte Menschenkette als
Zeichen der Solidarität mit dem Pütt war das
letzte emotionale Aufbäumen. Heute regt sich
in vielen Städten eher Widerstand gegen den
weiteren Kohleabbau.

WAZ:
Das Ruhrgebiet als solches gibt es also gar
nicht mehr?

Klemmer:
Zumindest hat es als ehemaliges Montanrevier
aufgehört zu existieren.

Tenfelde:
Ich sehe es genau umgekehrt: Das
Überraschende ist doch, dass zur Hochzeit der
Montanindustrie den Menschen in den einzelnen
Kommunen kaum bewusst war, dass sie eine
einheitliche Region formen. Und gerade jetzt,
Herr Klemmer, wo sich die
ökonomisch-strukturelle Prägung des
Ruhrgebiets in der Tat auflöst, entwickeln die
Bürger ein nie dagewesenes Selbstbewusstsein,
das ausgerechnet aus ihrer gemeinsamen
Geschichte erwächst. Erstmals seit 150 Jahren
sind hier die gebildeten Mittelschichten auf
dem Vormarsch und rufen nach der eigenen
Vergangenheit, um ihren Ort in der Gegenwart
zu bestimmen. Sie machen zum Beispiel die
Industriekultur als den Fokus ihrer Identität
aus.

WAZ:
Also hat Ministerpräsident Clement Recht,
wenn er etwas ironisch vom "mentalen Ereignis
Ruhrgebiet" spricht?

Tenfelde:
Nein, die heutigen Meinungsführer eines neuen
Ausbildungsbürgertums leiten aus der
gemeinsamen Vergangenheit vielmehr den
ernsthaften Auftrag an die Politik ab, auch in
Zukunft das Ruhrgebiet als gemeinsame Region
zu betrachten.

Klemmer:
Aber das ist doch ein nostalgisches Element,
von dem man nicht leben kann. Ich behaupte
immer: Ein Mensch wird dann alt, wenn seine
Erinnerungen die Zukunftserwartungen
überlagern. Das von Ihnen, Herr Tenfelde,
geschilderte nostalgische
Zusammengehörigkeitsgefühl hat ja etwas
Sympathisches. Aber ein Ballungsraum wie das
Ruhrgebiet braucht doch eine ernsthafte
Perspektive.

WAZ:
Und die kann nicht auch im Rückgriff auf
eine gemeinsame Vergangenheit liegen?

Klemmer:
Nostalgie darf immer nur ein Passepartout
sein, eine schmückende Umrahmung einer neuen
Entwicklung. Also: Gibt es neben der
gemeinsamen Erinnerung an die Montanzeit
etwas, was die Zusammengehörigkeit des
Ruhrgebiets dokumentieren würde? Als Ökonom
kann ich die Verflechtungen von Kommunen sehr
genau nachvollziehen: Wohin fahren die
Menschen zur Arbeit, wo studieren sie, wo
gehen sie einkaufen - alles lässt sich
statistisch erfassen. Die Ergebnisse zeigen
mir, dass das Ruhrgebiet gekennzeichnet ist
durch Auflösungstendenzen. Der Westteil des
Reviers gerät immer stärker in den Sog
Düsseldorfs, der Osten orientiert sich
Richtung Westfalen. Ich sehe da mindestens
zwei große Schollen auseinandertreiben.

Tenfelde:
Erstens wachsen alle Großstadtregionen mit
Speckgürteln in die Umgebungen hinein; nehmen
sie München, Hamburg oder Frankfurt. Da macht
das Ruhrgebiet keine Ausnahme. Überall suchen
die Menschen das ländlichere Domizil. Zweitens
müssen Sie natürlich auch messen, wie viele
Menschen täglich von Duisburg nach Dortmund
oder von Recklinghausen nach Hattingen
pendeln. Das sind meines Wissen bedeutend
stärkere Ströme.

Klemmer:
Wir dürfen nicht zwei völlig verschiedene
Dinge verwechseln. Die Pendlerströme sind das
eine. Ich beobachte aber im Gegensatz zur
gewöhnlichen Speckgürtel-Bildung anderer
Großstadt-Regionen im Ruhrgebiet eine
systematische Abwanderung sogenannter
dynamischer Generationen. In dieser Hinsicht
läuft das Revier der Altersentwicklung in
Westdeutschland um 18 bis 22 Jahre voraus,
hier hat die Alterung der Gesellschaft weit
früher eingesetzt als anderswo.

WAZ:
Aber muss deshalb jede Kommune allein sehen,
wo sie bleibt?

Klemmer:
Um es deutlich zu sagen: Ich bin beileibe
kein Feind des Reviers. Aber wir müssen uns
mit der strategischen Frage beschäftigen, ob
ein eigenständiges Ruhrgebiet in Zukunft eine
Chance hat. Ich werbe eher für ein gemeinsames
Auftreten mit Köln und Düsseldorf als
Rhein-Ruhr-Raum. Das wäre im westlichen Europa
ein einmaliger Wirtschaftsstandort, der sich
bestens verkaufen ließe.

Tenfelde:
Nichts dagegen, wenn denn das gesamte
Ruhrgebiet, also auch der östliche Teil mit
Dortmund an der Spitze, einbezogen würde.
Hochproblematisch daran wäre allerdings, wenn
weiterhin stets Köln und Düsseldorf das Sagen
hätten und die Handlungsfähigkeit des
Ruhrgebiets eingeschränkt bliebe. Mich stört,
dass die Revierkommunen immer noch nicht die
Stimme gegen diese beiden relativ blühenden
Partner erheben können. Gerade die Kernstädte
des Ruhrgebiets, die kein Hinterland haben und
damit nirgendwo Zentralität für sich
beanspruchen können, müssen in einem starken
Verbund endlich auch administrativ gestärkt
werden.

WAZ:
Können Sie diese Sehnsucht nach gemeinsamer
Stärke nachvollziehen, Herr Klemmer?

Klemmer:
Natürlich, allein ich sehe sie nicht. Es
kommt auf den Willen zur Gemeinsamkeit an.
Seit 30 Jahren verfolge ich die Entwicklung
des Ruhrgebiets, und immer ist es mir als
Vereinigtes Emirat vorgekommen. Da wirken
enorme zentrifugale Kräfte; wenn es um die
eigenen Interessen der Kommunen geht, werden
alle Nachbarschaftsschwüre schnell als leere
Worthülsen entlarvt. Wenn das Ruhrgebiet in
der Vergangenheit über all seine Landtags- und
Bundestagsabgeordneten massiv für eine
gemeinsame Strategie eingetreten wäre und
deutliche gezeigt hätte: "Wir wollen etwas
zusammen erreichen", hätte das Land überhaupt
keine Chance gehabt. Das Revier war aber immer
ein amorphes Gebilde widerstrebender Kräfte.

WAZ:
Es scheinen aber doch angesichts eines
enormen Problemdrucks immer mehr Revierstädte
zu der Einsicht zu gelangen, dass sich heute
niemand mehr allzu viel Eigensinn leisten kann.

Klemmer:
Ich war auf der "Expo Real" in München, der
internationalen Fachmesse für
Gewerbe-Immobilien. Da schaffen es die
Ruhrgebietsstädte nicht einmal, sich mit einem
gemeinsamen Pavillon als interessanter
Wirtschaftsstandort darzustellen.

Tenfelde:
Das ist - wie es Marx genannt hat - die
bleierne Last der Tradition. Das kommunale
Selbstverwaltungsrecht ist ein hohes Gut, aber
es erzeugt leider auch kommunale Egoismen.
Wenn ich daran denke, welche Städtevertreter
in den jeweiligen Verbandsversammlungen sitzen
und nichts anderes zu tun haben, als darauf zu
achten, dass ihre mickrigen kommunalen
Interessen um jeden Preis erhalten bleiben.
Das ist lächerlich für eine Stadtregion. Das
kommunale Selbstverwaltungsrecht ist hier
leider unüberschreitbar, und den direkt
gewählten Oberbürgermeistern ist dabei noch
nicht einmal ein Vorwurf zu machen: Die
Strukturen wollen es ja so, dass sie
rücksichtslos für die Interessen ihrer Stadt
eintreten.

WAZ:
Das heißt, neue Strukturen müssten geschaffen
werden?

Tenfelde:
Am kommunalen Selbstverwaltungsrecht zu
rühren, ist ein Sakrileg. Aber das Land könnte
Wege weisen, für Kooperation werben, ja, sie
honorieren. Und eben nicht mit einem
Pogramm-Rasensprenger jede Problemregion
wässern und hoffen, dass dort etwas gedeiht.
Es muss mal Schluss sein mit den sich
ablösenden Serien an Projektförderungen. Wir
benötigen strukturelle Veränderungen. Jene
Städte, die in Teilbereichen zusammenarbeiten
wollen, müssten bei ihren gemeinsamen
Bemühungen am Anfang vom Land finanziell
unterstützt werden. Es muss für die
Revierkommunen lukrativ sein, die Egoismen
abzubauen. Später rechnet es sich ganz von
allein.

Klemmer:
Sie dürfen auch nicht vergessen, dass die
kommunale Selbstverwaltung im Ruhrgebiet dazu
geführt hat, dass sie in diesem Ballungsraum
anders als in Paris oder London keine
Verelendung in Randbezirken haben, mit
Plattenbauten und hoher Kriminalitätsrate.
Jede einzelne Gemeinde hat für ihren Bereich
gekämpft und eine solide Wohnqualität erreicht.

WAZ:
Wer könnte denn den entscheidenden Impuls für
mehr Zusammenarbeit im Ruhrgebiet geben?

Klemmer:
Der Kommunalverband Ruhrgebiet ist an sich
eine interessante Einrichtung, vor allem wenn
man die Freiwilligkeit der Zusammenarbeit
betonen würde. Die Städte sollten nicht so
viel von der Ruhrstadt sprechen, sondern in
Zweckverbänden zu einzelnen Bereichen
Effizienzvorteile aufzeigen und damit weitere
Interessenten werben.

Tenfelde:
Ruhrstadt ist nur eine Chiffre, Herr
Klemmer. Das Wort soll in erster Linie
Aufmerksamkeit erzeugen, niemand will eine
Riesenstadt kreieren. Diese gleichmäßig
gewachsene Region mit mehr als einem Dutzend
eigener Zentren ist ja gerade weltweit
einzigartig. Aber diese Einzigartigkeit
verlangt auch nach einzigartigen politischen
Lösungen zur gemeinsamen Administration. Hier
ist das Land gefragt. Wir brauchen eine "Lex
Ruhris". Gebilde wie die Landschaftsverbände
dagegen sind mir ein Horror, so überflüssig
wie ein Kropf.

Klemmer:
Zusammenarbeit lässt sich nicht staatlich
oktroyieren. Und wenn sie von finanziellen
Anreizen reden, müssen sie auch die
finanzielle Situation des Landes im Hinterkopf
haben. Die Städte müssen schon freiwillig
erkennen, dass Kooperation beim Nahverkehr
oder der Entsorgung Sinn macht. Die
Ruhrstadt-Diskussion würde ich da ganz außen
vor lassen.

Tenfelde:
Und ich würde darauf verzichten, die
Zerreißbarkeit des Ruhrgebiets überzubetonen.
Lieber schrecken wir die Region weiter mit dem
Ruhrstadt-Begriff auf.

Das Gespräch fasste Tobias Blasius zusammen.


zit. nach:
http://archiv.waz.de/main_mappe2.asp?file=1&docid=00615701&verid=001