WAZ, 29.03.2001, Politik/Mantel:

Bochumer Projekt erforscht NS-Zwangsarbeit im Bergbau

Den Bolschewik niedergestreckt

Bochumer Projekt erforscht NS-Zwangsarbeit im
Bergbau

Ende 1944 arbeiteten in den Zechen des
Ruhrgebiets etwa 150 000 Zwangsarbeiter, das
waren fast 40 Prozent der gesamten
Zechen-Belegschaft. Dieses dunkle Kapitel wird
jetzt mit Hilfe der RAG AG erforscht.

Nach über 50 Jahren ist das Kapitel
NS-Zwangsarbeit immer noch nicht
abgeschlossen. Betroffene warten auf eine
symbolische Entschädigung, und das volle
Ausmaß des Einsatzes von Zwangsarbeitern in
der Wirtschaft des Reviers ist noch längst
nicht wissenschaftlich ausgeleuchtet. Viele
Themen wurden vernachlässigt, besonders das
der Zwangsarbeit im deutschen Kohlenbergbau.

Eine Tagung in Bochum, an der Archivare und
Wissenschaftler teilnahmen, war nun der
Auftakt für ein fünfjähriges
Forschungsvorhaben, das die RAG mit 2,5 Mio DM
finanziert. Unter der Leitung von Prof. Klaus
Tenfelde betreibt das Institut für Soziale
Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum das von
der Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets
geförderte Projekt. Der Einsatz von
Zwangsarbeitern im Ruhrgebiet soll dabei
umfassend aufgearbeitet werden. Auch werde
erstmals der Steinkohlenbergbau in den von
Deutschen besetzten Gebieten in Belgien,
Frankreich, Polen und der Ukraine in den Blick
genommen.

Karl Starzacher, Vorstandsvorsitzender der
RAG: Es ist fast vergessen, dass in Essen
während der Nazi-Zeit im Stadtgebiet 287
Fremdarbeitslager, 55 Kriegsgefangenenlager
und zwei Außenstellen des KZ Buchenwald
existierten. Der Bergbau war eines der größten
Einsatzfelder für Zwangsarbeiter. Je mehr
deutsche Bergleute an die Front kamen, desto
wichtiger wurden Zwangsarbeiter. Tenfelde: Es
gab Strebe, wo nur Russen arbeiteten. Damals
waren mehr als 1,5 Millionen Zwangsarbeiter im
Bergbau eingesetzt, so Starzacher. Daraus
resultiere die besondere Verantwortung des
Bergbaus.

So stellte die RAG im vergangenen Jahr 50 Mio
DM der Stiftungsinitiative der deutschen
Wirtschaft für die Entschädigung der
Betroffenen zur Verfügung. Als vor zwei Wochen
immer noch eine große Lücke bis zur
anvisierten Summe von fünf Mrd DM klaffte,
verdoppelte die RAG ihren Stiftungsbeitrag.

Der amerikanische Wissenschaftler Gerald
Feldman von der University of California in
Berkeley wurde zum Vorsitzenden des
wissenschaftlichen Beirates des
Forschungsprojekts ernannt. Viele fragen:
Wieso reden wir erst jetzt über die
Entschädigung? Es ist aber nicht nur eine
Frage von amerikanischen Anwälten. Wir hatten
vor zehn Jahren die Quellen noch nicht, so
Feldman. Vor allem Osteuropas Archive seien
erst seit kurzem zugänglich. Auch sei die
Bereitschaft der Gesellschaft, sich dem Thema
zuzuwenden, erst allmählich gewachsen.

Die NS-Zwangsarbeit führte zu einer
Verantwortung, der sich auch die Revierstädte
nicht entziehen. Auch die Stadtverwaltungen
setzten Fremdarbeiter ein. Vor allem beim Bau;
auch beim Bau von Luftschutzbunkern, die bei
Bombenangriffen aufzusuchen Zwangsarbeitern
streng untersagt war.

Von einem Polizeiprotokoll berichtete der
Bochumer Oberbürgermeister Hans-Otto Stüber.
Russen entwanden Volksgenossen Brot, ein paar
Sauerkrautbrocken und schlangen es runter. Als
man einen offenbar gestohlenen Salzstreuer bei
einem Mann fand, hat der Ordnungshüter den
Bolschewiken sofort niedergestreckt.

Dass die Mehrheit der Deutschen die
Vergangenheit nicht verschweigen will, davon
gab sich Otto Graf Lambsdorff, der Beauftragte
der Bundesregierung, bei der Bochumer Tagung
überzeugt. Fern von Gefühlswallungen ist ihm
klar, dass in der Entschädigungsfrage Geschäft
und Moral sehr eng nebeneinander liegen. Aber
auch, dass es nur einen finanziellen, aber
keinen moralischen Schlussstrich geben kann.
In zähen Verhandlungen verran kostbare Zeit;
frühere Opfer sterben dahin. Und so droht die
Gefahr, eines Tags Schecks auf Gräber zu legen.

Aus Bochum:
Christopher Onkelbach
und Rolf Potthoff


zit. nach:
http://archiv.waz.de/main_mappe2.asp?file=2&docid=00306094&verid=001